Ein freies Individuum zu sein – das ist das Versprechen moderner Gesellschaften. Und ihr Fluch - heute darf man nicht mehr individuell sein, man muss es sein. Wir müssen uns selbstverwirklichen und beständig optimieren. Die Gegenwartsgesellschaft erlaubt zwar tatsächlich einen bisher nicht gekannten Grad an Selbstbestimmung. Aber die Erwartungen an die Selbstverwirklichung werden dennoch immer wieder enttäuscht. Denn häufig ist die Einsicht verloren gegangen, dass Freiheit und Individualität sozial bedingt sind. Sie sind gesellschaftlich abhängig. Abhängig von Arbeitsmärkten, Bildungsinstitutionen, Infrastrukturen uvm. Wenn diese Abhängigkeiten vergessen oder sogar geleugnet werden, entsteht zuweilen eine radikalisierte Vorstellung einer verdinglichten Freiheit. Freiheit ist in diesem Verständnis keine soziale Beziehung, sondern ein Besitzstand. Die verdinglichte Freiheit verneint vehement, sich in sozialen Beziehungen mit anderen abgleichen oder gar einschränken wollen. In enger Beziehung zur verdinglichten Freiheit steht auch der libertäre Autoritarismus. Auch hier werden soziale Abhängigkeiten und Normen abgewehrt. Anders als der autoritäre Charakter, wie er von Theodor W. Adorno u.a. analysiert werden, ordnet sich dieser jedoch keinen Führungsfiguren oder starren Konventionen unter. Es ist eine demonstrative Beziehungslosigkeit, die feindselig und abwertend allen gegenübersteht, die ihre absolute Freiheit bedrohen, reagieren mit Abwertung, Ressentiment, Destruktivität und Machtdenken.
- Referent: Prof. Dr. Oliver Nachtwey, Professor für Soziologie an der Universität Basel und Author des Buches „Gekränkte Freiheit“
Wann? Montag, 10. Juni 2024 von 18:30 bis 20:00 Uhr
Wo? Historischer Ratshaussaal am Markt, Marburg
Weitere Informationen zur Veranstaltung finden sie hier.
Im Fokus der Vortragsreihe „Konflikte in Gegenwart und Zukunft“ im Sommersemester steht das Thema „Freiheit“ des Wissenschaftsjahrs 2024, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgerufen wurde. Im Mittelpunkt stehen Themen wie Meinungs- und wissenschaftliche Freiheit, historische Perspektiven auf Freiheit sowie deren Einschränkungen durch Gewalt, Migrationsregime oder gesellschaftliche Zwänge.
Das Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und die Stadt Marburg kooperieren bei der Durchführung der Vortragsreihe, die sich seit mehr als 20 Jahren an die Marburger Öffentlichkeit richtet. Im Sommersemester wird die Reihe von Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, Geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Konfliktforschung und Direktoriumsmitglied sowie Principal Investigator bei TraCe, organisiert und moderiert.